Am 23.März 2005 ereignete sich in einer Raffinerie der BP ein Ereignis, welches das Leben vieler Menschen zerstörte. Die Explosion kostete das Leben von 15 Menschen, fügte weiteren 170 schwere Verletzungen zu – von dem Leid der Angehörigen und Freunde ganz zu schweigen.
Viel ist über dieses Ereignis, welches auf mindestens einem Missverständnis basierte, gesagt und geschrieben worden. Neben den technischen Auswertungen zahlreicher Fachleute widmet sich auch die Psychologin Margaret Heffernan diesem Thema.
Das Missverständnis – ein langsamer, gnadenloser Brüter
Die Auswertung der amerikanischen Psychologin Margaret Heffernan (1) widmet sich den Persönlichkeiten, die zu dieser Zeit für BP verantwortlich waren. Und sie widmen sich dem kulturellen Kontext dieser Management-Ära. Der Titel? „Wilful blindness – Gewollte Blindheit“.
Ist das vielleicht die Vorform des Missverständnis? … Blenden wir rüber nach Texas, Houston und in die vornehmen Gemächer Londons – die mit dem Marmor-Eingang und den hohen Sesseln…
John Browne, damals wohl der erfolgreichste Mann in der Öl-Industrie legte dem Unternehmen seinerzeit einen harten Sparkurs auf. Instandhaltungsarbeiten fielen zum Opfer, Warnungen der Belegschaft verhallten ungehört. Der Boden für das tödliche Missverständnis wurde jedoch von mehreren Seiten aus vorbereitet: Die andere ranghohe Rolle in dem tödlichen Geschehen spielte der Top-Manager John Manzoni.
Ihm wurde im Zuge der Untersuchungen vorgeworfen, den Bezug zu den Belangen der Mitarbeiterschaft und den technischen Realitäten vor Ort nicht zu haben. Genau diese wären aber nötig gewesen, um dem tragischen Missverständis vorzubeugen.
„Ich hätte gesehen, dass es ein Problem gibt, wenn man es mir gesagt hätte“
John Manzoni
Und genau hier setzt sie an, die fruchtbare Kultur für diese Folge aus Tod, Verletzung und der damalig höchsten Strafe, die ein Unternehmen je zu zahlen hatte.
Zuviel Distanz – in zu vielen Fragen
Der kulturelle Unterschied zwischen dem altehrwürdigen Umfeld der Britischen Upper Class, welcher Lord Browne angehört und den texanischen Gegebenheiten war beträchtlich. Distinguierte Gespräche in der gediegenen Club-Atmosphäre einerseits und dem verordneten „Can-do“ der amerikanischen Erfolgskultur andererseits schufen einen gnadenlosen Humus für das tödliche Gap an Informationen.
„Ich hätte verstanden, dass es ein Problem gibt, wenn man es mir gesagt hätte“ – das ist auch das klassische Missverständnis einer Persönlichkeit, die oft ohne es zu merken, für eine selbstzerstörerische „Regierungsfrömmigkeit“ bei ihren Mitarbeitern sorgt. War nicht jeder von uns schon mal in einer Situation, in der ein Ziel unbedingt erreicht werden musste – egal, wie?
Die Tatsache, dass zwischen Browne und Manzoni ein Augenkontakt ebenso selten zustande kam wie eine offene Aussprache zwischen Manzoni und seinen Mitarbeitern, schloss den Teufelskreis. „Bis dieser Punkt eintritt, sind viele Signale übersehen worden“ so der einhellige Kommentar von Fachleuten zu dem tödlichen Flammen-Inferno in der Raffinerie der BP in Houston.
Das finale Missverständnis, dass der Flüssigkeitspegel im Unglücksturm unterhalb der maximalen Füllhöhe liegen müsse, besiegelte dann das Schicksal vieler Menschen. Der Turm füllte sich und lief über – am Ende war es wohl ein dort parkender Diesel, der die tödliche Explosion auslöste.
Neben all den messbaren technischen Fakten ist eine zwischenmenschliche Tatsache nicht zu verleugnen. Sie wird von einem Sprichwort des Volskmundes präzise gespiegelt:
„Und so schließt er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Der knallharte Sparkurs des Lord Browne hatte in einem Erfolg zu enden.
Mahnungen verhallten ungehört – wohl an allen möglichen Stellen.
Das Wort Missverständnis ist häufig auch ein Synonym für Realitätsverweigerung.
Und diese wiederum gedeiht dort, wo ein Ergebnis entgegen aller Vernunft erreicht werden muss.
Es ist ein Missverständnis im Auftrag des Erfolges.
Hier geht es um weitaus mehr als eine unterschiedliche Auffassung: Es führt eine Zeit- und Kostenfalle vor Augen. Und – natürlich – bietet es in vielen Fällen auch eine ziemliche Dosis Entertainment.
Grund genug also, sich intensiv diesem Wort zu widmen – denn es beleuchtet manche Schieflage aus vielen Blickwinkeln.
Wie entzieht man einem Missverständnis den Boden?
Diesen Satz werde ich nie vergessen. Mit ihrem Sing-Sang in der Stimme und ihrem französischen Akzent formulierte die Iranerin einen der Sätze, die mich mein Leben lang begleiten werden.
„Unsere Kinder – das ist unser Reichtum. Unsere Jugend, das ist unsere Zukunft.“
Nie, niemals werde ich diese Atmosphäre vergessen, die sich verbreitete, als sie diese Worte sprach. Diese weiche Wärme, dieses innere Glück, was da mitschwang….
Mir ist in diesem Moment klar geworden, warum die orientalischen Gesellschaften die „Ohren“ ihrer Kinder haben – und wir an vielen Stellen eben nicht.
Besonders im Moment höre ich sehr viele Klagen über junge Leute. Sie seien nicht belastbar, realitätsentwöhnt, überanspruchsvoll… Davon mag ja einiges zutreffen. Aber – sind nicht wir es, die sie vor dem Fernseher und Computer geparkt haben? Und mal „bei Licht betrachtet“:
Haben nicht wir schon in einem Denken, welches zu 100% auf unsere Rechte und unsere Selbstverwirklichung ausgerichtet war, den Boden für einen belastbaren Gemeinschaftssinn aufgeweicht?
Und wo sind das Lob und die Bewunderung für diejenigen, die schnell und intelligent anspruchsvolle Projekte realisieren? An vielen Stellen sehe ich, dass sich die jungen Leute einfach von uns zurückziehen, weil wir die Welt nicht mehr verstehen, die sich jetzt eben vor unseren Augen aufbaut – und weil wir den Zeitpunkt verpassen, Sie von ihnen erklären zu lassen.
Und – nebenbei bemerkt – wer geht schon dahin, wo er laufend degradiert wird? Der amerikanische Autor Nir Eyal geht in seinem Buch “Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen” auf die Online-Zeit junger Menschen ein.
“Fest gestellt wird dann, dass zuviel online-Zeit ein Problem im Leben der jungen Menschen erzeugt. Dabei sollten wir eigentlich feststellen, dass schon die Tatsache, dass sie soviel online sind, auf ein tieferes Problem hinweist.” (2)
An vielen Stellen sehe ich, dass wir uns selbst in einem Ghetto isolieren und den Boden für ein Missverständnis vorbereiten: Grund dafür ist eine autoritäre Grundeinstellung, die noch im Industriezeitalter sinnvoll war, da sie zu Stabilität und Ergebnissen führte. Heute wird sie als unerträglich erlebt. Die Treiber der VUCA-Welt sind nun einmal Innovation und Schnelligkeit.
Führungsmodelle, die in erster Linie Stabilität erzeugen, erzeugen eben auch Trägheit – und die wird von vielen hochaktiven Menschen eher als Belastung empfunden. Viele der jungen Leute, die wir als realitätsfern bezeichnen, verkrümeln sich einfach in schnellere (agile) Gefilde und meiden uns, weil wir ihnen nicht zuhören. Sie spüren, dass ihr Beitrag nicht wirklich wertgeschätzt wird – und ziehen ihre Konsequenz. Vieles, was sie sagen, mag uns infrage stellen – und doch ist es zutreffend.
Mit viel Stil auf dünnem Eis – ein Missverständnis durch Höflichkeit?
Vielleicht klingt es etwas seltsam, aber häufig entsteht ein Missverständnis auch durch zu große Freundlichkeit. Sind Menschen unsicher oder möchten sie anderen nicht kritisieren oder ihnen zur Last fallen, ist ein Missverständnis vorprogrammiert: Schnell kommt die Klarheit abhanden, weil sie als zu hart oder unhöflich empfunden wird. Dann ersetzen Andeutungen klare Aussagen. Dabei bleibt die Hoffnung, dass der andere schon alleine drauf kommen wird, oft unerfüllt.
Ja, oft passiert sogar das krasse Gegenteil: Die Dinge entwickeln sich in eine total falsche Richtung, weil der Eindruck entstanden ist, die Ampeln stehen auf „Grün“. Das Gefühl, rücksichtslos behandelt worden zu sein, ist dann bei dem vorsichtigen Menschen oft genauso greifbar wie eine leise Enttäuschung oder Ärger….
So beugen Sie dem Missverständnis durch Klarheit vor
Handlungsempfehlung: Fühlen Sie sich manchmal nicht wirklich ernstgenommen?
Dann können eine andere Wortwahl und ein ernster Ton helfen.
Statt „Ich komme leider erst in einer Woche dazu, das wegzuschicken“ lautet die klare Aussage „Ich möchte das aus dem Weg haben. Können Sie bitte bis morgen die Abholung veranlassen?“
Dann weiß der Gesprächspartner sicher, dass es eben nicht egal ist, ob es noch ein paar Tage länger rumsteht oder nicht. Er weiß auch, dass genervte Stimmung entsteht, wenn hier keine Rücksicht genommen wird – und was von ihm erwartet wird. Viele Menschen schätzen es, wenn auf diese Weise einem Missverständnis vorgebeugt wird. Auch kurze Sätze helfen.
Die Voraussetzung? Freundlichkeit – in der Stimme und im täglichen Auftreten.
Werte – und wie wir sie zu unserem eigenen Schaden übergehen
Einladungen zum Essen sind ein besonderes Terrain. Essen, einen Tisch zu teilen, das macht etwas mit uns Menschen. Wir sind am Tisch leichter für Dinge ansprechbar, die so leicht an keiner anderen Stelle an uns herankommen würden.
Diese Ansprechbarkeit wirkt sich natürlich auch sehr schnell aus, wenn jemand seinen Einsatz nicht gewürdigt sieht: Wird mit viel Liebe ein Restaurant und der Eingeladene isst sehr schnell – am Ende noch ohne sich anerkennend zu äußern, führt das schnell zu einer Enttäuschung. Nicht um Geld geht es hier – sondern um kostbare Lebenszeit und um die persönliche Mühe des Einladenden.
Für den, der viele Geschäftsessen in der Woche hat, mag das „Business as usual“ sein.
Fragen wie „ja, aber glauben Sie, dass die Leute ernsthaft über so etwas reden?“ zeigen mir, dass hier bei vielen ein Missverständnis vorliegt. „Der schlingt die teure Zitronencreme runter wie nix“ zeigt, dass schon ein Ressentiment entstanden ist.
Für die einen ist es „halt ein normaler Business-Lunch“, für den Einladenden dagegen etwas Besonderes – und er will es irgendwie gewürdigt wissen.
Vielleicht klingt diese Situation in Ihren Augen wie eine Kleinigkeit.
Aber gerade in diesen Dingen sehe ich, dass sich Menschen viele Steine selbst in den Weg legen.
Handlungsempfehlung: Würdigen Sie den Einsatz Ihres Gesprächspartners. Das Ganze sollte authentisch klingen: Wenn das Essen nicht so Ihr Fall ist, äußern Sie sich positiv über die Frische der Zutaten, den guten Service oder das Ambiente. Ein ehrliches Kompliment ist dabei besser als ein Pflichtkompliment, was „geschraubt“ klingt.
Fazit: Ein Missverständnis ergibt sich sehr schnell, wenn der Blick auf den Wertekanon des Gegenübers nicht stattfindet. Hiermit ist ein Zeitfaktor verbunden! Auch vollkommen unterschiedliche Kulturen bieten sich geradezu an, ein Missverständnis zu erzeugen. Sich direkt in die Augen zu schauen zum Beispiel ist bei den einen ein Zeichen von Ehrlichkeit und aufrichtigem, mutigem Charakter. Für andere wiederum ist es eine absolute Provokation.
Missverständnissen vorzubeugen lohnt sich: Sie sind mindestens eine Zeit- und Kostenfalle.
Auftrittskompetenz kann deutlich dazu beitragen, dass Missverständnisse gar nicht erst entstehen oder sich schnell ausräumen lassen.
Ein souveränes Auftreten beinhaltet auch, dass die Werte verschiedener Menschen berücksichtigt und wertvolle so Potenziale geschöpft werden. Tragfähige Beziehungen und eine gute Unternehmenskultur machen ein Unternehmen „schnell“. Die Wettbewerbsfähigkeit steigt nachhaltig.
Auch eine vorausschauend gestaltete Fehlerkultur trägt dazu bei, Missverständnisse zu vermeiden. Menschen, die keine Angst haben müssen, dass sie für ihre Aussagen abgebügelt werden, werden sich gerne engagieren. Im Fall der Raffinerie von BP ist das mit grausamen Folgen verhindert worden.
Ein Missverständnis, so lehrt auch dieser Fall, passiert einige „Sperren“ bis es seine schädliche Wirkung voll entfaltet. Eine Kultur der wertschätzenden Offenheit, fernab einer Angstkultur, kann diese Sperren zu einem Frühwarnsystem umfunktionieren.
Zum Wohle aller Beteiligten.
Handlungsempfehlung: Fragen Sie doch einfach mal Ihren Gesprächspartner zu Beginn “Wie geht es Ihnen?”
Dadurch ist schon manches unangenehme Telefonat anders gelaufen….
Kontakt:
Fon: 0711/54 09 64 97
Mail: info(at)erfolgmitstil.de
(1) Wilful blindness von Margaret Heffernan
Why we ignore the obvious at our peril
Verlag Simon and Schuster
(2) Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen.
Nir Eyal und Julie Li, Redline Verlag